Ein Theologiestudent reiste eines Tages voller Vorfreude zu einem berühmten Rabbiner, dessen Weisheit weit über die Landesgrenzen hinweg bekannt war. Der junge Mann hatte viel von ihm gehört und bewunderte ihn zutiefst. Als er am Ort eintraf, wurde er herzlich vom Rabbiner empfangen. Mit einem freundlichen Lächeln erkundigte sich dieser nach der Reise und bot dem Studenten einen Sitzplatz an.
Doch bevor das Gespräch richtig beginnen konnte, klopfte es an der Tür. Ein Ehepaar trat ein, das augenscheinlich Rat suchte. Der Rabbiner entschuldigte sich kurz beim Studenten und wandte sich den Neuankömmlingen zu. „Setzt euch doch“, sagte er, „lasst uns schauen, wie ich euch helfen kann.“ Der Student, neugierig wie er war, freute sich insgeheim, den Rabbiner gleich bei seiner Arbeit erleben zu können.
Zunächst bat der Rabbiner die Ehefrau, von ihren Sorgen zu berichten. Der Mann, so erklärte er, solle währenddessen draußen vor der Tür warten. Die Frau begann ausführlich über ihre Ehe zu klagen. Sie erzählte von all den Dingen, die ihrer Meinung nach schief liefen, und beschwerte sich über das Verhalten ihres Mannes. Mit jedem Satz wurde sie lebhafter, fast leidenschaftlich in ihrer Kritik, und ließ kein gutes Haar an ihrem Gatten. Der Rabbiner hörte geduldig zu, blickte ihr mit ernster Miene ins Gesicht und dachte einen Moment lang nach, als sie endete. Schließlich sagte er mit fester Stimme: „Mh, du hast Recht.“
Die Frau schien sichtlich erleichtert und verließ zufrieden das Zimmer. Nun war der Mann an der Reihe. Mit einer ähnlichen Energie wie seine Frau klagte auch er ausführlich über das gemeinsame Eheleben. Er sprach von all den Problemen, die ihr Verhalten in seinen Augen verursachte, und schilderte, warum es ihm mit ihr schwer fiel, glücklich zu sein. Der Rabbiner hörte auch ihm mit voller Aufmerksamkeit zu, wartete ab, bis der Mann geendet hatte, und dachte einen Moment nach. Dann sagte er: „Mh, du hast Recht.“
Der Mann verabschiedete sich sichtlich zufrieden, und das Ehepaar ging. Beide schienen, obwohl sie sich kaum begegnet waren, erstaunlich glücklich – fast als wäre ein Dialog geführt und Frieden geschlossen worden.
Der Theologiestudent jedoch war fassungslos. Er hatte aufmerksam zugehört, und die widersprüchlichen Geschichten der beiden Eheleute hatten ihn ratlos gemacht. Nun war er regelrecht entrüstet. „Verehrter Rabbiner“, platzte es aus ihm heraus, „wie können Sie erst der Frau und dann ihrem Mann Recht geben? Was die beiden gesagt haben, widerspricht sich doch in jedem Punkt! Es kann unmöglich sein, dass beide Recht haben!“
Der Rabbiner sah ihn einen Moment lang schweigend an, lächelte verschmitzt – und sagte schließlich zu ihm: „Ja, du hast Recht!“
Der Theologiestudent erstarrte. Verblüfft über diese Antwort wusste er nicht, ob er nun protestieren oder lachen sollte. Doch als er in die ruhigen, weisen Augen des Rabbiners blickte, ahnte er, dass in dieser Antwort vielleicht mehr Wahrheit steckte, als er im ersten Moment zu begreifen vermochte.
Quelle: Jüdischer Weisheitsgeschichte