Ein armer chinesischer Bauer lebte mit bescheidenen Mitteln: Er besaß nichts als ein kleines Stück Land, einen treuen Hengst und seinen einzigen Sohn. Obwohl sein Leben entbehrungsreich war, klagte er nie. Doch eines Tages geschah etwas Unerwartetes: Sein einziger Hengst lief ihm davon.
Die Nachricht verbreitete sich schnell, und die Nachbarn kamen geeilt, um den Bauern zu trösten. "Was für ein schreckliches Unglück!", riefen sie voller Mitgefühl. Doch der Bauer blieb ruhig und entgegnete mit einem sanften Lächeln: "Ob es ein Glück ist oder ein Unglück, wer kann das schon sagen?"
Ein paar Tage später geschah etwas Erstaunliches: Der Hengst kehrte zurück – und er kam nicht allein. Mit ihm trabte eine ganze Herde von Wildpferden aufs Gehöft. Von einem Moment auf den anderen war der Bauer, der ärmste Mann im Dorf, wie durch ein Wunder zum reichsten geworden. Die Nachbarn kamen erneut, diesmal voller Bewunderung und Neid. "Was für ein unglaubliches Glück du hast!", riefen sie freudig. Doch der Bauer hob nur die Schultern und sprach leise: "Ob es ein Glück ist oder ein Unglück, wer kann das schon sagen?"
Am nächsten Tag begann der Sohn des Bauern, eines der Wildpferde zu zähmen. Das Tier war wild und ungestüm, und während der junge Mann versuchte, seinen Willen durchzusetzen, stürzte er schwer vom Pferd. Sein Bein war gebrochen, und er konnte nicht mehr laufen. Wieder eilten die Nachbarn herbei, diesmal mit sorgenvollen Gesichtern. "Was für ein Unglück! Dein einziger Sohn kann dir nun nicht mehr helfen!", jammerten sie. Doch der Bauer schaute sie ruhig an und sagte: "Ob es ein Glück ist oder ein Unglück, wer kann das schon sagen?"
Einige Wochen später wurde das Dorf von einer düsteren Botschaft erschüttert: Krieg war ausgebrochen, und alle jungen Männer sollten eingezogen werden, um an die Front zu ziehen. Väter verabschiedeten sich mit schweren Herzen, Mütter weinten um ihre Söhne. Doch der Sohn des Bauern blieb verschont – denn mit seinem verletzten Bein war er für den Kriegsdienst untauglich. Die Nachbarn, deren Söhne fortgezogen waren, kamen erneut zum Bauern. "Was für ein Glück du hast!", murmelten sie, während die Tränen über ihre Gesichter liefen. Der Bauer jedoch schaute sie mit dem gleichen stillen Blick an wie immer und sprach: "Ob es ein Glück ist oder ein Unglück, wer kann das schon sagen?"
Die Geschichte des Bauern verbreitete sich weit über das Dorf hinaus. Mit seiner Gelassenheit und Weisheit zeigte er allen, dass das Leben voller Wendungen ist – und dass niemand wirklich vorhersagen kann, ob eine Situation langfristig gut oder schlecht sein wird. Oft liegt das Gute im Unglück verborgen, und das Unglück kann im Glück lauern. Alles, was bleibt, ist das Vertrauen in den Lauf der Dinge.
Quelle: Die Grundidee der Geschichte findet man bei Christian Morgenstern, aber auch in asiatischen Erzählungen. Es gibt vielfältige Varianten von dieser Geschichte.